Menschliche embryonale Stammzellen: Eine teure Sackgasse
Daniel Constam, Dr. sc. nat., Entwicklungsbiologe, Forschungsleiter, ISREC, Epalinges VD
Am 19. Dezember 2003 verabschiedete das Parlament das Stammzellen-forschungsgesetz (StFG). Demnach sollen menschliche Embryonen, welche für die Behandlung von Fruchtbarkeitsstörungen gezeugt aber nicht verwendet wurden, neuerdings für die Forschung an embryonalen Stammzellen (ES) zugänglich gemacht werden. Ausschlaggebend für diesen Entscheid war u.a. das Argument, es sei ethisch weniger fragwürdig, solche Embryonen für die Forschung zu verwenden, als sie ungenutzt zu vernichten. Eine beachtliche, weitsichtige Minderheit im Nationalrat (57:103) war allerdings der Ansicht, dass eine solche Instrumentalisierung menschlichen Lebens grundsätzlich verboten bleiben müsse. Befürworter des StFG wollen diese Bedenken nicht gelten lassen, weil ihres Erachtens Embryonen ausserhalb des Mutterleibes kein reales Potenzial hätten, um sich zu einer Person zu entwickeln. Um beurteilen zu können, ob diese Behauptung stimmt, muss man über das biologische Entwicklungspotenzial von embryonalen Stammzellen informiert sein.
Ob menschliche Embryonen für die Forschung mit Stammzellen verfügbar gemacht werden sollen oder nicht, ist selbstverständlich nicht nur eine nationale Angelegenheit. Da aber in keinem anderen Land die Stimmbürger über diese Frage entscheiden, hat das Referendum zum neuen StFG in der Schweiz eine Signalwirkung und verdient nach umsichtiger Prüfung volle Unterstützung.
Herstellung von kompletten Embryonen aus ES Zellen
In der Tierforschung dienen ES-Zellen auch 20 Jahre nach ihrer Entdeckung praktisch ausschliesslich zur Herstellung von Embryonen 1. In dem angewandten Verfahren werden sie gewöhnlich mit einem normalen Embryo vermengt. Dessen «Hülle» ermöglicht die Einnistung in die Gebärmutter einer Leihmutter, wo sich die Zellmischung zu einem intakten Embryo entwickelt. In diesen sogenannten «Chimären» stammen alle Gewebe überwiegend von den beigemengten ES Zellen ab. Dies gilt auch für die Keimbahn, welche deshalb genetisch identische Spermien und Eizellen produziert. Gewöhnliche Chimären enthalten jedoch im Unterschied zu einem Klon jeweils auch Zellen des Wirt-Embryos. Wenn man nun aber dem Wirt-Embryo vor seiner Vermischung mit den ES Zellen einen Elektroschock verabreicht, um im 2-Zellstadium seine beiden Kerne miteinander zu verschmelzen, so kann er lediglich die für die Einnistung nötige Hülle bilden, aber keine embryonalen Gewebe. Demzufolge entsteht der ganze Embryo komplett aus ES Zellen 2, 3. Auf diese Weise können im Tierversuch von einer einzigen ES Zellinie sehr effizient genetisch identische, oder je nach Bedarf manipulierte Klone in theoretisch unbeschränkter Zahl hergestellt werden 3, 4. Die Behauptung des StFG (Art 2c), dass sich ES-Zellen per Definition «nicht zu einem Menschen entwickeln können», beruht auf veraltetem Schulbuchwissen. Sie ist somit sträflich irreführend, denn es besteht heute nicht der geringste Zweifel, dass auch der Mensch aus embryonalen Stammzellen entsteht.
Der Missbrauch von menschlichen ES Zellen ist technisch möglich und absehbar
Aber sind nicht ES Zellen immer auf einen Wirt angewiesen und deshalb nicht allein lebensfähig? Dieser Einwand ist in der Praxis vollkommen bedeutungslos, weil mittels in vitro Fertilisation (IVF) ja auch die benötigten Wirt-Embryonen in beliebiger Anzahl verfügbar geworden sind, und nach Elektroschock geeignet sind, um ES Zellen mit der benötigten «Hülle» zu versehen. Dieses Verfahren ist viel effizienter als die herkömmliche Klonierung, weil sich so die Hüllenzellen besser zu einem intakten Mutterkuchen (Plazenta) entwickeln können, als nach einem Kern-Transfer in Eizellen. Im Embryo entstehen aus ES Zellen auch Spermien und Eizellen 1. Die dazu nötigen Bedingungen werden intensiv eforscht mit dem Ziel, Keimbahnzellen auch künstlich aus ES Zellen herstellen zu können 5, 6. Sollte dies gelingen, so wird das bereits etablierte Verfahren zur Genmanipulation 4, 7 genügen, um aus ES Zellen in unbeschränkter Anzahl sogar Samen- und Eizellen genetisch massgeschneidert herzustellen. Eine düstere Vorahnung namhafter Denker rückt deshalb allein mit der Verfügbarkeit menschlicher ES Zellen unausweichlich in den Bereich des Machbaren.
Das StFG verbietet zwar vorläufig, dass aus ES-Zellen wieder Embryonen hergestellt werden (Art. 3c). Genmanipulation wird aber ausschliesslich nur in Keimbahnzellen verboten (Art. 3b). Im Klartext bedeutet dies, dass in menschlichen ES Zellen Genmanipulation ausdrücklich erlaubt sein wird, obschon nachher auch Keimbahnzellen daraus entstehen können. Demzufolge ist Art. 3b durchaus nicht in der Lage, einem Missbrauch der Genmanipulation vorzubeugen. Abgesehen davon bleiben genetische Eingriffe praktisch spurlos. Mit zunehmender Verbreitung menschlicher ES Zellen wird es deshalb technisch unmöglich zu kontrollieren, was damit gemacht wird.
Benötigt der «Forschungsplatz Schweiz» menschliche ES Zellen?
Sämtliche führenden Forschungslabors auf dem Gebiet der ES Zellforschung sind heute im Ausland angesiedelt. Ihre Arbeiten bestätigen zwar die Erwartung, dass ES Zellen in Kultur unter geeigneten Bedingungen wichtige Eigenschaften von spezialisierten Geweben erwerben können 8, 9. Ob und inwieweit sie aber in klinisch relevanten Tiermodellen wirklich beschädigte Organe reparieren können, bleibt unklar. Etliche Fachleute sind trotzdem der Ansicht, dass jetzt auch menschliche ES Zellen intensiv erforscht werden müssen, damit die Schweiz Entwicklungen auf diesem Gebiet nicht verpasst. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass der Forschungsplatz Schweiz auch davon profitiert, wenn eine Sackgasse rechtzeitig als solche erkannt und die beschränkten Mittel intelligent investiert werden. Zweifel am Nutzen menschlicher ES Zellen sind überaus angebracht, weil entsprechende Zellen in Tierversuchen trotz intensiver Forschung seit 20 Jahren keinen nachhaltigen therapeutischen Nutzen zeigen konnten. Stattdessen verursachen sie ein hohes Risiko für die Entstehung von Krebs 10.
Zweifel am therapeutischen Nutzen von ES Zellen sind berechtigt
Das neue StFG entstand unter dem Druck, dass die gesetzliche Frist für die Aufbewahrung von ungebrauchten Embryonen von IVF Patienten ablief. Befürworter hoffen, aus solchen Embryonen funktionsfähige Ersatzgewebe für geschädigte Organe herstellen zu können. Solchem Wunschdenken sind allerdings natürliche Schranken gesetzt, weil Ersatzgewebe aus ES Zellen vom Immunsystem als fremd erkannt und abgestossen werden. Das ist eine unumstrittene Tatsache. Eben deshalb sind sie im Vergleich zu adulten Stammzellen grundsätzlich schlecht geeignet für Transplantationen, selbst wenn man daraus die gewünschten Ersatzgewebe herstellen könnte. Um diese naturgemässe Hürde zu überwinden, versuchen derzeit Forscher in Korea und in England nicht nur von sogenannt «überzähligen», sondern von klonierten Embryonen Stammzellen zu isolieren. Weil Stammzellen eines solchen Klons mit dem Empfänger genetisch nahezu identisch sind, hofft man, dass sie nicht mehr abgestossen werden. In Tierversuchen hat sich auch diese Hoffnung allerdings bisher nicht bewahrheitet. Stattdessen wurden Stammzelltransplantate selbst nach «therapeutischem» Klonen als fremd erkannt. Erst nach der Geburt konnten aus einem «reproduktiv» geklonten Tier verträgliche Gewebe entnommen werden 11.
Das Klon-Verbot im StFG ist widersprüchlich
Derzeit hofft man, dass menschliche ES Zellen auch für die Erforschung von Krankheiten nützlich sein werden, für welche es kein perfektes Tiermodell gibt. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass auch ES Zellen in Kultur nur teilweise identisch wie in einem Embryo gesteuert werden. Zweitens muss man hinterfragen, ob der erhoffte Nutzen die Risiken rechtfertigt, welche zwangsläufig entstehen, wenn die Genmanipulation an menschlichen ES Zellen nicht mehr tabu bleibt. Deshalb wird das Begehren, auch menschliche ES Zellen für die Forschung verfügbar zu machen, in erster Linie mit der Spekulation gerechtfertigt, dass daraus vielleicht Stammzelltransplantate hergestellt werden könnten. Aber selbst wenn man diesen Versprechungen Glauben schenken würde, so wäre das StFG allein schon deshalb abzulehnen, weil seine Zielsetzung offensichtlich widersprüchlich ist. So erlaubt es einerseits zwar die Forschung an ES Zellen zu therapeutischen Zwecken, gleichzeitig aber verbietet es die hierfür notwendige Herstellung von Klonen, Chimären oder Hybriden (Art. 3c), obwohl das eine ohne das andere aufgrund biologischer Gegebenheiten von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Es ist deshalb ausser Frage, dass das einstweilige Klon-Verbot sofort wieder abgeschafft wird, sobald ES Zellen transplantiert werden sollen, da sie sonst abgestossen werden.
Zusammenfassung
Tierversuche zeigten, dass aus fremden ES Zellen hergestellte Transplantate abgestossen werden und ein hohes Krebsrisiko darstellen. Ohne Genmanipulation und Klonierung bleiben ES Zellen deshalb zwangsläufig unbrauchbar für nachhaltige Therapien mit Ersatzgeweben. Aber selbst Ersatzgewebe aus geklonten ES Zellen würden das Krebsrisiko erhöhen 10, und wären zudem sowieso nur für eine Minderheit der bedürftigen Patienten erhältlich mangels Spender-Eizellen 12. Die Verlockung, aus menschlichen Embryonen Ersatzgewebe zu gewinnen, sollte deshalb von vornherein als Sackgasse erkannt werden. Bereits heute ist zudem erwiesen, dass reproduktive Klone nur aus ES Zellen effizienter hergestellt werden können, als mit dem herkömmlichen Kerntransfer. Und nur mit Hilfe von ES Zellen ist Genmanipulation am Menschen machbar. Es ist nicht einzusehen, weshalb wir die damit verbundenen gesellschaftlichen Risiken und die daraus resultierende Wissenschaftsfeindlichkeit in Kauf nehmen sollen, zumal der therapeutische Nutzen von ES Zellen in klinisch relevanten Modellen nicht zweifelsfrei durch voneinander unabhängige Studien erwiesen ist. Viele trösten sich mit der trügerischen Hoffnung, dass ein Missbrauch von ES Zellen durch das neue StFG verhindert werden kann. Aber das neue StFG verfehlt leider dieses Ziel. Stattdessen gibt es menschliche Embryonen unserer Willkür preis und verharmlost in sträflicher Weise die notwendigen Folgen.
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